Mit dem Namen Tocharer (lateinisch Tochari, auch Thocari, griechisch Τοχάροι Tocharoi) bezeichneten ursprünglich antike und byzantinische Schriftsteller Angehörige zentralasiatischer Völkerschaften, die in der Regel zu den skythischen Völkerschaften gezählt wurden. Nach einer häufig vertretenen Hypothese sind sie mit den Yuezhi der chinesischen Quellen identisch. Die antiken Tocharer wurden zu Namensgebern für Tocharistan (im nördlichen Afghanistan) von der Spätantike bis ins 13. Jahrhundert.
Spekulationen über die Sprache der Bewohner von Tocharistan haben dazu geführt, dass diese Tocharer ihrerseits zu Namensgebern für die tocharische Sprache wurden. Ob die Tocharer tatsächlich tocharisch sprachen, ist strittig. Es ist nicht bekannt, welche Ethnie mit dieser Sprache verbunden war und wer sie in welchem Umfang gesprochen hat. Schriftliche Zeugnisse des Tocharischen decken vor allem einen Zeitraum vom 5. bis zum 8. Jahrhundert ab.
Die Bezeichnung Tocharer kann sich demnach auf Verschiedenes beziehen: antike Völker, die späteren Bewohner Tocharistans, die nur vage bekannten Sprecher der tocharischen Sprache – und schließlich Volksgruppen, denen unterstellt wird, dass sie tocharisch gesprochen haben.
Der Geograph Strabon und der Historiker Pompeius Trogus schreiben den antiken Tocharern eine Rolle bei der Eroberung des gräko-baktrischen Reichs und kriegerische Auseinandersetzungen mit den Parthern in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. zu.
Die antiken Tocharer werden meist mit den Yuezhi (Yüeh-chi) gleichgesetzt, einem Volk, das im Raum der chinesischen Provinz Gansu siedelte. Die Xiongnu besiegten sie 176 v. Chr., wonach die Yuezhi zum größten Teil ins Siebenstromland Zentralasiens auswanderten. Im Jahr 129 v. Chr. überschritten sie den Iaxartes (Syrdarja) und ließen sich in Baktrien nieder. Diese Landschaft am oberen Oxus (Amu-Darja) umfasst heute das südliche Usbekistan, Tadschikistan und den Norden Afghanistans.
Aus den Tocharern in diesem Gebiet ging der Stamm bzw. die Dynastie der Kuschana hervor, die im 1. Jahrhundert n. Chr. ein Reich in Baktrien errichtete. Das Reich der Kuschana dehnte sich später über weite Gebiete Mittelasiens aus und erreichte unter Kanishka I. seine größte Ausdehnung. Erst nach seinem Niedergang kam der Name Tocharistan für Gebiete in Baktrien auf, in denen einst die antiken Tocharer gesiedelt hatten. In älterer Literatur wird auch oft von Tuhhara oder Toyapot gesprochen.
Um 1900 entdeckten europäische und japanische Forscher im Tarimbecken Schriftrollen zumeist religiösen, insbesondere buddhistischen Inhalts. Auf den Schriftrollen, die deutsche Forscher im mittelnördlichen und nordöstlichen Tarimbecken bei den Oasenstädten Aksu und Umgebung im Westen über Kuqa, Karashahr bis Turpan im Nordosten fanden und die ins 6.–8. Jahrhundert datiert werden konnten, entdeckte man in indischer Schrift eine unbekannte Sprache.
Aufgrund einer Übersetzerbemerkung in einem altuigurischen Text fand man heraus, dass die Uiguren diese Sprache als twgry bezeichneten, und stellte eine Beziehung zu den Tocharern her.[1] Diese Zuordnung war aber von Anfang an umstritten. Etliche Grundlagen dieser Zuordnung wurden später widerlegt und eine Zuordnung dieser Sprachen zu den Wusun vermutet.[2]
Ab etwa 800 erlischt das bis dahin neben dem altuigurischen Schrifttum bestehende Schrifttum in tocharischer Sprache. Inwieweit es sich zu diesem Zeitpunkt noch um eine lebende Sprache gehandelt hat, ist ungeklärt.
Tocharisch ist eine indogermanische Sprache ohne engere Beziehung zu räumlich benachbarten indogermanischen Sprachen. Zum Erstaunen der Sprachwissenschaftler handelte es sich um eine sogenannte Kentumsprache, eine Lautausprägung, die bis dahin nur für westliche Zweige des Indogermanischen bekannt war. Heute wird das Tocharische als altertümliche indogermanische Sprache angesehen, die sich nach dem Hethitischen von der gemeinsamen Entwicklung der später ausdifferenzierten indogermanischen Sprachen gelöst hat. Einige Wissenschaftler vermuten Beziehungen zu westindoeuropäischen oder finno-ugrischen Sprachen.[3]
Den „Tocharern“ als den Sprechern der tocharischen Sprachen werden auch Mumien von Personen mit oft europiden Erscheinungsbild zugerechnet, die im Tarimbecken gefunden wurden.
In der Ördek-Nekropole und einigen weiteren Fundplätzen im nordöstlichen Tarimbecken zwischen den Oasenstädten Turfan und Kucha wurden im trockenen, sandigen Wüstenklima der Taklamakan und der Wüste Lop Nor mumifizierte Leichname untersucht. Die älteren Mumien waren relativ groß (z. B. 1,76 Meter) und mit westlichen Gesichtszügen und hellen Haarfarben, die jüngeren Mumien dagegen stärker ostasiatisch. Die reguläre Bestattung erfolgte in Grabkammern. Die Mumien datieren auf Zeiträume von 1800 bis 1200 v. Chr. und auf 200 v. Chr. bis 800 n. Chr.[4] Aufgrund der Lage der Nekropole werden sie den Bevölkerungen von Kucha und Turfan zugeordnet. Ihre Anthropologie und Textilwebtechnik lassen eine Zuwanderung aus dem Westen vermuten. Auch die durchgeführten Gen-Analysen stützen die Einordnung. Ob ethnische Beziehungen zu den Tocharern bestehen und welche Verbindungen zu indogermanischen Völkern überhaupt anzunehmen sind, ist strittig.
Man vermutet, dass sich das kulturelle und sprachliche Profil dieser Bevölkerung im ausgehenden 1. Jahrtausend v. Chr. herausbildete, möglicherweise in Verbindung mit der Afanasevo-Kultur im Altaigebirge und im Flusstal des Jenissei. Von dort waren nach einer archäologisch untermauerten Hypothese eventuell Menschen der Afanasevo-Kultur im 2. Jahrtausend v. Chr. ins Tarimbecken gewandert.
Einzelne Mumien weisen chirurgische Nähte auf, die mit Pferdehaar gemacht wurden. Weibliche Mumien hatten Beutel bei sich, die heilende Pflanzen enthielten, sowie ein kleines Messer, vermutlich um diese zu zerkleinern.