Kollektivschuld bedeutet, dass die Schuld für eine Tat nicht dem einzelnen Täter (oder Tätern) angelastet wird, sondern einem Kollektiv, allen Angehörigen seiner Gruppe, z. B. seiner Familie, seines Volkes oder seiner Organisation. Das beinhaltet folglich auch Menschen, die selbst nicht an der Tat beteiligt waren. Das Strafrecht moderner Demokratien geht grundsätzlich von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, so dass Kollektivschuld juristisch nicht relevant ist. Artikel 33 Genfer Abkommen IV bestimmt, dass keine Person für ein Verbrechen verurteilt werden darf, das sie nicht persönlich begangen hat. Eine Kollektivstrafe setzt Kollektivschuld voraus. Nach Art. 87 Abs. 3 Genfer Abkommen III und Artikel 33 Genfer Abkommen IV zählen Kollektivstrafen zu den Kriegsverbrechen.
Der Begriff der Kollektivschuld bezieht sich beispielsweise auf die (tatsächliche oder angebliche) Behauptung einer Kollektivschuld aller Männer an der Geschlechterdiskriminierung, aller Deutschen an den Verbrechen des Nationalsozialismus, aller weißen Australier an den Verletzungen der Menschenrechte der Aborigines oder aller US-Amerikaner an der Unterstützung von Sozialpolitiken, welche soziale Ungleichheit befördern.[1]
Im deutschen Kontext werden die Begriffe „Kollektivschuld“ und „Kollektivschuldthese“ in der Regel im Kontext der NS-Vergangenheit verwendet. Dies geschieht beispielsweise von progressiven Kräften, um Stereotypisierungen zu vermeiden und ein differenziertes, ganzheitliches Bild zu erhalten. Diese Begriffe werden jedoch auch als politische Schlagwörter rechter und rechtsextremer Gruppen verwendet.
Im Unterschied zur Kollektivschuld gibt es den juristischen Begriff der Kollektivhaftung, die dem Mitglied einer Gruppe die Haftung für die Schäden auferlegt, welche Organe der Gesamtheit durch ihr Handeln verursacht haben. Mit Kollektivhaftung wird z. B. im Völkerrecht die Haftung eines Staates für Schäden völkerrechtswidrigen Handelns seiner Organe begründet. Hierher gehört auch die Verpflichtung zu Reparationszahlungen eines im Krieg unterlegenen Gegners, der den älteren völkerrechtlichen Anspruch auf Tributzahlungen abgelöst hat. Als problematisch gilt eine kollektive Zuweisung von Schadensersatzpflichten gegen Staaten, weil sie letztlich in den Staatsbürgern natürliche Personen wirtschaftlich schädigen, die sich ihre Zugehörigkeit zu einem Staat oder Volk nicht aussuchen konnten, sondern denen sie durch Abstammung und Geburt zugeschrieben wurde. Im Kontext von Krieg und bewaffneten Konflikten hat Kollektivhaftung wiederholt zu Menschenrechtsverletzungen geführt und gilt als Verletzung der Genfer Konvention.
Die Annahme der Kollektivschuld wird mit einer moralischen Verantwortung durch die Zugehörigkeit zu der Gruppe begründet, nicht durch die individuelle Schuldzurechnung. In westlichen Gesellschaften ist dies nicht mit der Moral und dem Gesetz zu vereinbaren. So beruht z. B. das moderne Strafrecht in europäischen Staaten auf dem Grundsatz einer individuellen Verantwortlichkeit. In vielen Teilen der Welt und früher auch in Europa hingegen war kollektivistisches Denken weit verbreitet, nach dem der Einzelne Teil eines Kollektivs (Familie, Klan, Volk) ist und für Taten z. B. von Familienangehörigen bestraft werden kann.
Nach dem Krieg führte die Psychological Warfare Division des SHAEF eine Kollektivschuld-Kampagne durch: zum Beispiel mit Plakaten und Filmen wie Die Todesmühlen. Die alliierte Kollektivschuld-Richtlinie wurde später aufgehoben, weil sie das neue Ziel der Demokratisierung behinderte.[2]
Direktive Nr. 1 von Robert A. McClure, Leiter der Information Control Division und Spezialist für Psychologische Kriegführung, an die USA Heeresgruppenpresse erläutert das Verfahren:
Die Ideen der Kollektivschuld und der kollektiven Bestrafung entstanden nicht im US-amerikanischen und britischen Volk, sondern auf höheren Ebenen der Politik.[4] Erst gegen Ende des Krieges begann die amerikanische Öffentlichkeit dem deutschen Volk kollektive Verantwortung zuzuweisen.[4] Das wichtigste politische Dokument, das Elemente der Kollektivschuld und der kollektiven Bestrafung enthält, ist JCS 1067 von Anfang 1945.[4]
Bereits im Jahr 1944 hatten prominente Meinungsführer in den USA eine Propagandakampagne (die bis 1948 fortgesetzt wurde) für einen harten Frieden für Deutschland initiiert mit dem Ziel, die scheinbare amerikanische Gewohnheit zu beenden, Nationalsozialisten und deutsches Volk als getrennte Einheiten zu betrachten.[5]
Die Psychological Warfare Division unternahm eine psychologische Propaganda-Kampagne, um eine deutsche kollektive Verantwortung zu entwickeln.[6]
Am 20. Juli 1945 – dem ersten Jahrestag des gescheiterten Versuchs, Hitler zu töten – wurde das Attentat überhaupt nicht erwähnt. Der Grund dafür war, dass man glaubte, wenn die deutsche Bevölkerung daran erinnert würde, dass es aktiven deutschen Widerstand gegen Hitler gab, so würde dies die alliierten Bemühungen, der deutschen Bevölkerung ein Gefühl der kollektiven Schuld zu vermitteln, untergraben.[7]
Nach Norbert Frei wurde die Kollektivschuldthese von den Westalliierten in der Nachkriegszeit – abgesehen von einzelnen Maßnahmen, etwa den Zwangsbesichtigungen von Stätten der NS-Verbrechen wie dem KZ Buchenwald – zwar durchaus vertreten, aber eben nicht praktiziert. In den Entnazifizierungsverfahren sei im Gegenteil jedes Mal individuelle Schuld geprüft worden.[8]
Während 1946 noch 78 Prozent der Bevölkerung der Westzonen die ersten Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg als gerecht empfanden, war diese hohe Zustimmungsquote nach Umfragen amerikanischer Demoskopen vier Jahre später auf 38 Prozent gesunken. Die Internierungspraxis der Alliierten, die erzwungene Konfrontation mit den Hinterlassenschaften der Konzentrationslager, die Entnazifizierung von früheren Vertretern des NS-Regimes, die Strafverfahren vor zivilen und militärischen Gerichten wurden zunehmend als Siegerjustiz empfunden. Die Nürnberger Prozesse, in denen jeweils ausgewählte Spitzenrepräsentanten des NS-Regimes verurteilt worden waren, galten als inszenierte „Stellvertreterprozesse“, in denen eine „Kollektivschuld“ der Deutschen bewiesen werden solle. Auf dem Hintergrund eines diffusen Gefühls von Komplizenschaft wurde eine Entlastung aller Deutschen von einem „Kollektivschuldvorwurf“ gefordert. In apologetischer Form wurde behauptet, nur Adolf Hitler, die NS-Führung bzw. die gesellschaftliche Eliten sollten für Krieg und Völkermord verantwortlich gewesen sein, nicht das gesamte deutsche Volk oder der einzelne Täter. Wie Norbert Frei darstellt, hätten die Annahme, es würde den Deutschen eine Kollektivschuld vorgeworfen werden, in der Hauptsache dazu gedient, diesen Vorwurf in ritueller Empörung immer zurückweisen zu können. Dieser Diskurs sei „Ausdruck der fortbestehenden volksgemeinschaftlichen Solidarisierungsbedürfnisse“ gewesen und habe im Zusammenhang gestanden mit den in den 1950er Jahren verbreiteten Forderungen nach einer Amnestierung der verurteilten NS- und Kriegsverbrecher sowie generell nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit.[9]
Noch heute gehört die Behauptung, die Deutschen seien einem Kollektivschuldvorwurf ausgesetzt oder ausgesetzt gewesen, zur rechten Rhetorik. Der konservative Martin Hohmann, damals CDU, wehrte sich zum Beispiel 2003 in einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit gegen angebliche Behauptungen, die Deutschen seien ein „Tätervolk“, indem er die gleiche Behauptung gegen die Juden richtete und sie mit Zitaten aus einem antisemitischen Pamphlet untermauerte. Daraufhin wurde er aus der CDU ausgeschlossen.
Die Vorstellung, einem Kollektivschuldvorwurf ausgesetzt zu sein, ist ein Topos der Rhetorik deutscher Rechtsradikaler. Damit werden die Reeducation-Programme der Alliierten nach 1945, die Demilitarisierung Deutschlands und die Reparationen für die von Deutschland angerichteten Kriegsschäden delegitimiert. Darüber hinaus bietet sie Gelegenheit, in exkulpatorischer Absicht auf alliierte Kriegsverbrechen zu verweisen, eine angebliche jüdische Mitschuld an der NS-Herrschaft zu behaupten oder den Holocaust zu relativieren.[10]
Auch von den beiden Volkskirchen und von der Politik wurde eine deutsche Kollektivschuld zurückgewiesen. Bundespräsident Theodor Heuß schlug stattdessen den Begriff „Kollektivscham“ vor; auch Richard von Weizsäcker betonte in seiner viel beachteten Rede Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die er am 8. Mai 1985 vor dem Deutschen Bundestag hielt: „Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht“, rief aber gleichzeitig dazu auf, kollektiv die Verantwortung für das nationalsozialistische Unrecht zu akzeptieren. Weizsäcker bezeichnet diese Haltung als „Kollektivhaftung“.
Der Psychologe Viktor Frankl argumentierte gegen das Konstrukt der Kollektivschuld: „es gibt nur zwei Rassen von Menschen, die Anständigen und die Unanständigen.“[11]
Der britisch-jüdische Verleger Victor Gollancz wendete sich 1945 in seinem Artikel "What Buchenwald Really Means" gegen das Konzept einer deutschen Kollektivschuld. Er begründete dies damit, dass Hunderttausende von nichtjüdischen Deutschen ebenfalls Opfer der Nationalsozialistischen Verfolgungen waren und noch mehr durch den NS-Terror zum Schweigen gebracht worden seien. Auch wären britische Staatsbürger, die nichts unternommen hätten, um die Juden zu retten, obwohl sie im Gegensatz zu den Deutschen in einer Demokratie lebten, ebenfalls nicht unschuldig.[12]
Benjamin Sagalowitz schrieb 1950 in einem Reisebericht für den Jüdischen Weltkongress:
Sagalowitz argumentierte, dass alle Welt auf die Verantwortung der USA, Großbritanniens, der Sowjetunion oder Israels verweise, wenn es z. B. um das Schicksal der arabischen Flüchtlinge aus Palästina oder um die Teilung Deutschlands gehe; in dieser Weise gebe es auch eine Verantwortung Deutschlands. Auch Leo Baeck unterschied politische Schuld von strafrechtlicher Schuld, er sprach von der Gesamtverantwortung Deutschlands.
Ralph Giordano wollte 1947 nicht von „Kollektivschuld“ sprechen. Es habe eine Minderheit von Deutschen gegeben, die ihrem Gewissen und nicht dem Führer gefolgt sei. Die Mehrheit habe jedoch kein Recht, sich dadurch entlastet zu fühlen und von deren Anständigkeit zu profitieren, besonders weil sie sich auch heute noch von dieser Minderheit distanziere.[14] Giordano sah die Hauptschuld der Millionen in ihrem Schweigen dem Unrecht gegenüber, dem sie täglich, stündlich überall begegneten. Bereits 1945 schrieb der Frankfurter Rabbiner Leopold Neuhaus in der Frankfurter Rundschau[15] zum Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht, dass sich diejenigen, die zugesehen und die Zerstörung hätten geschehen lassen, mitschuldig gemacht hätten. Eine Rolle in der Diskussion um die Kollektivschuld spielte auch das Nutznießertum, das als Mitschuld begriffen wurde. Zwar gab es nach dem Krieg vielfach auch Verständnis und Hilfsbereitschaft für die Juden, aber es fehlte zunächst der Wille zur Wiedergutmachung und in Tausenden von Fällen versuchten Deutsche, Besitz zu behalten, der Juden gestohlen worden war.
Der amerikanische deutschstämmige Schriftsteller Thomas Wolfe besuchte 1936 zum wiederholten Mal Deutschland, was er in seinem 1940 veröffentlichten Roman Es führt kein Weg zurück verarbeitete: „Ihm wurde klar, dass diese ganze Nation von der Seuche einer ständigen Furcht infiziert war: gleichsam von einer schleichenden Paralyse, die alle menschlichen Beziehungen verzerrte und zugrunde richtete. Der Druck eines ununterbrochenen schändlichen Zwanges hatte dieses ganze Volk in angstvoll-bösartiger Heimlichtuerei verstummen lassen, bis es durch Selbstvergiftung in eine seelische Fäulnis übergegangen war, von der es nicht zu heilen und nicht zu befreien war. […] Im Lauf dieser Sommerwochen und -monate bemerkte George überall ringsum die Merkmale der Zersetzung und des Schiffbruchs eines großen Geistes. Die giftigen Ausstrahlungen von Unterdrückung, Verfolgung und Angst verpesteten die Luft wie ansteckende Miasmen und besudelten, verseuchten und vernichteten das Leben aller Menschen, die George kannte.“– Thomas Wolfe: Es führt kein Weg zurück. Dr. Arthur Flehender berichtet 1979 in der Jewish Chronicle, dass er Deutsche bei der Reichskristallnacht 1938 "weinen sah während sie hinter ihren Vorhängen standen und zusahen".[16]