Die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen ist ein Straftatbestand, der im § 166 StGB der Bundesrepublik Deutschland geregelt ist. Wegen seiner Geschichte wird § 166 häufig als Gotteslästerungsparagraph oder Blasphemieparagraph bezeichnet.
(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.
Seit Anbeginn der Rechtsgeschichte bestehen Strafbestimmungen zu religiösen Themen. Seit Beginn der Aufklärung wird die Rechtfertigung dieser Straftatbestände in Frage gestellt.
Das Preußische Strafgesetzbuch von 1851 regelte in seinem § 135 die Strafbarkeit der Verspottung der anerkannten christlichen Kirchen.[1] Andere Religionsgemeinschaften standen nicht unter dem Schutz dieses Gesetzes. Auch waren die Kirchen selbst Gegenstand des Schutzes. Einer Störung des öffentlichen Friedens bedurfte es nicht.
Das Reichsstrafgesetzbuch des Deutschen Reichs übernahm diese Strafregelungen 1871 in den § 166. Neben der Gotteslästerung wurde auch bestraft, wer öffentlich eine der christlichen Kirchen oder eine andere mit Korporationsrechten innerhalb des Reichsgebiets bestehende Religionsgesellschaft oder ihre Einrichtungen oder Gebräuche beschimpft oder in einer Kirche oder in einem andern zu religiösen Versammlungen bestimmten Ort beschimpfenden Unfug verübt.[2]
Der Tatbestand wurde 1969 durch das 1. Strafrechtsreformgesetz neu gefasst.[3] Es wurde klargestellt, dass nicht Gott an sich durch den Paragraph geschützt werden kann. Die Neufassung wählte bewusst den öffentlichen Frieden als schützenswertes Rechtsgut und nicht „[...] das religiöse Empfinden des einzelnen [...]“.[4]
Die Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen forderte in der 12. Wahlperiode (1990–94) die Streichung des Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch.
Als die ehemalige Prostituierte Domenica Niehoff im Juni 1996 zum Besuch von Papst Johannes Paul II. in Berlin in einem papstähnlichen Gewand bei einer Demonstration den Transvestiten Charlotte von Mahlsdorf „heilig sprach“, veranlasste dies konservative CSU-Politiker, im Bundestag einen Gesetzentwurf vorzustellen (Beschimpfung eines religiösen Bekenntnisses ohne Störung des öffentlichen Friedens); dieser wurde von den übrigen Parteien abgelehnt.
Mehrere Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und die Fraktion selbst brachten im November 2000 einen Gesetzentwurf in den Bundestag ein, mit dem Inhalt der Streichung der Einschränkung, dass die Beschimpfung geeignet sein muss, den öffentlichen Frieden zu stören.[5] Anlass war das Theaterstück „Corpus Christi“ im Theater Heilbronn, das Jesus und seine Apostel unter anderem als trinkfreudige Schwule dargestellt hatte.[6] Der Gesetzentwurf wurde am 25. April 2002 abgelehnt.[7]
2006 forderten Edmund Stoiber, damals bayerischer Ministerpräsident, und Markus Söder, damals CSU-Generalsekretär, eine Verschärfung des Paragraphen.[8][9]
Erneut forderten CSU-Politiker, darunter Johannes Singhammer und Horst Seehofer, die Verschärfung des § 166 StGB im Jahr 2012 nach Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in der französischen Satirezeitung Charlie Hebdo.[10] Die Forderung wurde vom Bamberger Erzbischof Ludwig Schick unterstützt, von muslimischen Verbänden, der evangelischen Kirche und der Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen abgelehnt.[11][12][13]
Im Februar 2013 sendete die heute show einen satirischen Filmbeitrag, mit dem sich die Kabarettistin Carolin Kebekus beim damaligen Kardinal Joachim Meisner als Päpstin bewarb. Danach rief die Pius-Bruderschaft dazu auf, Kebekus anzuzeigen; etwa 100 Anzeigen wurden erstattet. Die Staatsanwaltschaft Köln prüfte, ob der Beitrag den Tatbestand des § 166 StGB erfülle, stellte kein strafrechtlich relevantes Handeln fest und stellte die Ermittlungen ein. Die satirisch überspitzte Darstellung habe keinen beschimpfenden Charakter, sondern einen kirchenkritischen Inhalt.
In Folge des Anschlags auf Charlie Hebdo im Januar 2015 sprachen sich unter anderen die FDP-Politiker Christian Lindner und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für eine Abschaffung des Paragraphen aus, während Vertreter von CDU und SPD seinen Bestand verteidigten.[14]
Die Linke forderte auf ihrem Parteitag in Magdeburg 2016 die Streichung des Paragraphen.
Jährlich kommt es zu ca. 15 Verurteilungen.[15]
Geschütztes Rechtsgut ist der öffentliche Frieden, nicht das Bekenntnis als solches oder die bloßen Gefühle seiner Anhänger.[16]
Beschimpfen ist eine besonders gravierende herabsetzende Äußerung.[17] Die Ablehnung einer Religion oder Weltanschauung oder Kritik an ihnen sind nicht strafbar.[18] Wahre Tatsachenaussagen können ihrem Inhalt nach kein Beschimpfen darstellen,[19] allerdings durch ihre Form strafbar sein.[20]
Die beschimpfenden Äußerungen müssen nicht an die Kreise gerichtet sein, in denen sie zur Störung des öffentlichen Friedens führen können. Es genügt, wenn zu befürchten ist, dass sie dort bekannt werden.[21]
Bekenntnisse sind sowohl religiöse als auch weltanschauliche Vorstellungen, die sich von Überzeugungen oder Meinungen dadurch abgrenzen, dass sie für den Bekennenden als unmittelbar konstituierend für den Wert der eigenen Person erlebt werden.[22] Zu den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zählen sowohl die Kirchen und Religionsgemeinschaften als auch z.B. die Freimaurer oder die Humanistische Union.[23]
§ 166 StGB ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt, d.h. der öffentliche Frieden muss durch die Beschimpfung nicht tatsächlich gefährdet sein, sondern berechtigte Gründe für die Befürchtung, der öffentliche Frieden könnte gestört werden, reichen aus.[24] Die Beurteilung, ob das der Fall ist, soll aus der Perspektive eines objektiven, nicht besonders empfindlichen Beobachters erfolgen.[25]
Kritiker sehen in der deutschen Vorschrift eine Einschränkung des Rechtsguts der Meinungsfreiheit. Insbesondere durch eine einseitige Anwendung verleite der Paragraph zu einem Schutz der Mehrheitsmeinung, nicht aber zwangsläufig zum Schutz einer Minderheitsmeinung, da die Interessen kleinerer Gruppen seltener mit dem „öffentlichen Frieden“ gleichgesetzt werden.[26]
Sie lehnen den Paragraphen auch als sogenannten Gummiparagraphen ab, insbesondere, weil nicht klar sei, wie „Beschimpfung“ zu definieren ist – darunter könne jede negative Äußerung fallen. Noch fraglicher sei, wann eine solche „Beschimpfung“ geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (die „Eignung“ reicht; sog. abstraktes Gefährdungsdelikt). Kritiker behaupten, eine solche „Friedensstörung“ könne – analog zur Volksverhetzung – a posteriori (nachträglich) konstruiert werden, wenn sich Gläubige beschwerten. Zudem kann die Friedensstörung durch die betroffene Religionsgemeinschaft bewusst herbeigeführt werden, damit der Paragraph zur Anwendung kommen kann, beispielsweise durch Anwendung von Gewalt gegen die "Gotteslästerer" oder durch die Blockade eines Theaters, in dem ein religionskritisches Stück aufgeführt werden soll. Andererseits könne in politischen Wetterlagen, in denen die Verfolgung von Gotteslästerern nicht opportun sei, fast immer damit argumentiert werden, der Beschuldigte sei nicht bekannt genug, um mit seinen Äußerungen eine breite Öffentlichkeit zu schockieren.
Kritisiert wird, dass der Staat damit das kritische Denken unterdrücke: „Das zentrale Merkmal der Aufklärung ist, alles hinterfragen zu dürfen. Das Licht der Vernunft soll in jeden Winkel scheinen, um Unterdrückung, Aberglaube, Intoleranz und Vorurteile zu überwinden. (...) Der Staat macht sich mit solchen Gesetzen zum Unterstützer der Feinde des offenen Diskurses. Vertreter jedweder Ideologie, ob politisch oder religiös, müssen es schlicht ertragen können, dass ihre Weltanschauung hinterfragt, kritisiert und, ja, auch lächerlich gemacht wird.“[27]
Der Paragraph ist stark in der Kritik von atheistischen Gruppen und Kirchenkritikern sowie von Künstlern, die sich in ihrer Freiheit beschnitten fühlen. Kurt Tucholsky meinte zu diesem „mittelalterlichen Diktaturparagraphen“ (in der vorhergehenden Fassung): „Ich mag mich nicht gern mit der Kirche auseinandersetzen; es hat ja keinen Sinn, mit einer Anschauungsweise zu diskutieren, die sich strafrechtlich hat schützen lassen.“[28]
Im jährlich herausgegebenen Bericht Freedom of Thought – A Global Record on the Rights, Legal Status, and Discrimination Against Humanists, Atheists, and the Non-religious der International Humanist and Ethical Union (IHEU) wurde Deutschland 2014 mit dem zweitschlechtesten (aus fünf) Freedom of Thought-Status Severe Discrimination bewertet. Ausschlaggebender Grund dafür war § 166 StGB: „’Blasphemy‘ is outlawed or criticism of religion is restricted and punishable with a prison sentence“.[29]
Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon kritisierte nach dem Anschlag auf das Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, dass „[d]er öffentliche Friede [...] nicht durch Künstler gestört [wird], die Religionen satirisch aufs Korn nehmen, sondern durch Fanatiker, die auf Kritik nicht angemessen reagieren können“. Er forderte die Abschaffung des § 166 StGB: „In der Praxis hat dieser Paragraph zu einer völligen Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses geführt. Namhafte Künstler wie Kurt Tucholsky oder George Grosz wurden mit Hilfe dieses Zensurparagraphen gemaßregelt. Tatsächlich aber wurde der öffentliche Friede niemals durch kritische Kunst bedroht, sondern vielmehr durch religiöse oder politische Fanatiker, die nicht in der Lage waren, die künstlerische Infragestellung ihrer Weltanschauung rational zu verarbeiten.“[30]
Das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen, ein Gremium aus achtzehn unabhängigen Experten, die damit beauftragt worden waren, Beschwerden hinsichtlich des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte zu bewerten, bezeichnete im Jahr 2011 „Verbote von Darstellungen mangelnden Respekts vor einer Religion oder anderen Glaubenssystemen, einschließlich Blasphemiegesetzen, [als] mit dem Vertrag inkompatibel, außer in den bestimmten Umständen, wie sie in Artikel 20, Absatz 2 des Vertrags vorausgesehen sind.“ Der Artikel 20, Absatz 2 ruft Staaten dazu auf, Folgendes zu verbieten: „Die Verfechtung nationalen, rassistischen oder religiösen Hasses, welche zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt anstiftet.“ Der Kommentar verlangt mit Bedacht, dass keine Restriktion die Garantien des Abkommens auf Gleichberechtigung vor dem Gesetz (Artikel 26) und der Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion (Artikel 18) verletzen darf. Gesetze, die Blasphemie einschränken, sind als solche somit mit den allgemeinen Menschenrechtsstandards inkompatibel.[31][32]
Beispiele (chronologisch):
In Österreich gilt eine ähnliche Bestimmung unter dem Titel Herabwürdigung religiöser Lehren (§ 188 Strafgesetzbuch), des Weiteren ist auch die Störung einer Religionsübung, beispielsweise eines Gottesdienstes, strafbar (§ 189 StGB). Diese Delikte werden mit Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafen geahndet. Bekannte Fälle sind ein Prozess wegen § 188 StGB gegen den Karikaturisten Manfred Deix, der 1994 in erster Instanz verurteilt, jedoch in zweiter Instanz freigesprochen wurde. Gegen den Karikaturisten Gerhard Haderer kam es zu mehreren Anzeigen wegen seines Buches Das Leben des Jesus (2002); das Verfahren wurde 2003 von der Staatsanwaltschaft Wien eingestellt. In einigen weniger bekannten Fällen kam es jedoch zu rechtskräftigen Verurteilungen wegen § 188 StGB.
Bis zur Einführung des neuen österreichischen StGB im Jahr 1975 war die Beleidigung „des höchsten Wesens“ mit einer bis zu fünfjährigen Freiheitsstrafe zu ahnden.
In der Schweiz findet sich eine ähnliche Regelung unter dem Titel Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit in Artikel 261 des Strafgesetzbuches.[44]
„Wer öffentlich und in gemeiner Weise die Überzeugung anderer in Glaubenssachen, insbesondere den Glauben an Gott, beschimpft oder verspottet oder Gegenstände religiöser Verehrung verunehrt, wer eine verfassungsmässig gewährleistete Kultushandlung böswillig verhindert, stört oder öffentlich verspottet, wer einen Ort oder einen Gegenstand, die für einen verfassungsmässig gewährleisteten Kultus oder für eine solche Kultushandlung bestimmt sind, böswillig verunehrt, wird mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen bestraft.“
Das Strafgesetzbuch der DDR enthielt keine vergleichbare Regelung. Lediglich „religiöse Handlungen“ waren gemäß § 133 geschützt.
Am 29. November 2012 beschloss das niederländische Parlament die Abschaffung des dortigen Paragrafen 147, der seit 1968 nicht mehr angewandt worden war.
In Irland schreibt Artikel 40 der Verfassung vor, dass die Veröffentlichung blasphemischen Materials strafbar sein soll.[45] Ein entsprechendes Gesetz gab es seit 1961, aufgrund seiner unklaren Definition von Blasphemie kam es aber zu keiner einzigen Verurteilung.[46] Im Rahmen einer Rechtsreform im Juli 2009 wurde die entsprechende Strafvorschrift mit Wirkung zum 1. Januar 2010 neu gefasst.[47] Im Oktober 2014 kündigte die irische Regierung an, ein Referendum über die Abschaffung des Blasphemieartikels in der irischen Verfassung abzuhalten.[48]
Siehe Blasphemie#Blasphemie-Gesetz in Pakistan