Der Begriff Anagramm (von griechisch anagraphein ‚umschreiben‘) bezeichnet ein Wort, das aus einem anderen Wort durch Umstellung (Permutation) der einzelnen Buchstaben oder Silben gebildet wurde. Der Vorgang dieser Buchstabenumstellung wird als Anagrammieren bezeichnet.
Verallgemeinert kann ein Anagramm dadurch gebildet werden, dass anstelle eines Wortes beispielsweise nur eine Silbe, ein Wort oder ein Satz, eine oder mehrere Zeilen eines Gedichts oder ganz allgemein eine beliebige Textpassage durch Anagrammieren verändert werden.
Als Vater des Anagramms gilt der griechische Grammatiker und Dichter Lykophron aus Chalkis (* um 320 v. Chr.; † nach 280 v. Chr.), der König Ptolemaios II., griechisch Πτολεμαίος, mit der Buchstabenfolge απο μελίτος (Griechisch für ‚von Honig‘) umschmeichelte.
Im Deutschen wird das Anagramm auch als Letterkehr oder Letterwechsel bezeichnet. Im Volksmund ist es als Schüttelwort bekannt. Eine spezielle Form des Anagramms sind Wörter, die von vorn und hinten gelesen sinnvoll sind (zum Beispiel Lager und Regal). Die einfachste Form eines Anagramms ist der Buchstabendreher, bei dem nur zwei Buchstaben – aneinanderliegend oder nicht – vertauscht werden. Oft wird das Anagramm mit dem Palindrom verwechselt, das sich vor- und rückwärts gleich liest. Da hierbei aber keine Buchstaben vertauscht werden, ist ein Palindrom kein Sonderfall des Anagramms. Allerdings können Anagramme zu Palindromen kombiniert werden, wie Lager-Regal. Im Gegensatz zum Anagramm ist für ein Pangramm die Nutzung aller Buchstaben eines Alphabets notwendig.
Häufig ist es das Ziel des Anagrammierens, durch die Buchstabenumstellung einen neuen Satz, also ein Anagramm mit verändertem Sinn, zu erzielen. Eine derartige Anwendung des Anagrammierens gilt als eine sprachliche Form der Kunst und kann als Buchstabenspiel oder als Rätsel aufgefasst werden.
In Gedichten, Rätseln und anderen Formen der Literatur werden aus einzelnen Wörtern, aber auch aus ganzen Zeilen oder Sätzen Anagramme geformt. Dadurch und durch das lange Befassen mit den entsprechenden zu anagrammierenden Sätzen, werden neue und oft überraschende Kombinationsmöglichkeiten erkennbar. In besonders kunstvollen Anagramm-Gedichten besteht oft eine Beziehung zwischen der ursprünglichen Bedeutung eines Wortes und dem Sinn der späteren daraus gebildeten Anagramme. In der zeitgenössischen Lyrik erlebt das Anagramm eine Wiederentdeckung, z.B. in den Texten von Titus Meyer.[1]
Szenisch getanzte Anagramme werden im Ballett gezeigt. Dabei bekommt jeder Tänzer einen Buchstaben auf sein Trikot. Über Platzwechsel der Tänzer können dann Wörter und Wendungen getanzt werden. Solche getanzten Anagramme sind seit der Antike überliefert; Dante Alighieri nutzt diese Form des Anagrammierens im 18. Gesang des paradiso in seiner Göttlichen Komödie.[2]
In Zeitschriften und Zeitungen finden sich Visitenkartenrätsel in Anagrammform. Meist ist der Beruf einer Person aus dem Namen und der Stadt zu erraten. Beispielsweise: Welchen Beruf übt die Person mit der Visitenkarte aus? „Fr. Inge C. Sonst, Rheine“. Antwort: „Schornsteinfegerin“.
Durch die Surrealisten bzw. Dadaisten erfuhr das Anagramm eine Renaissance. Unica Zürn und Gerhard Rühm setzten sich in ihrem künstlerischen Schaffen mit Anagrammen auseinander. Auch Kurt Mautz oder Esther Spinner wären hier zu nennen. Eine bemerkenswerte Dichte an sinnvoller Anagrammdichtung findet sich bei R. und C. Schnorr.[3] In der neuesten Literatur ist vor allem auf Walter Moers zu verweisen, der in seinen Romanen zahlreiche Anagramme einbaut (beispielsweise Ohjann Golgo von Fontheweg für Johann Wolfgang von Goethe oder Gofid Letterkerl für Gottfried Keller).[4]
Anagramme wurden auch in der Wissenschaft benutzt. Hier diente das Anagrammieren zur Verschlüsselung von wichtigen Informationen, die der Öffentlichkeit zunächst noch nicht mitgeteilt werden sollten. Es wurde der geheimzuhaltende Klartext anagrammiert, indem seine einzelnen Buchstaben beliebig umgestellt wurden. In der Kryptographie wird dies als Transposition bezeichnet. Eine Möglichkeit ist es, die Buchstaben des Klartextes schlicht in alphabetischer Reihenfolge zu sortieren. Der durch Anagrammieren entstandene Geheimtext wurde veröffentlicht.
Anders als bei den üblichen kryptographischen Verfahren bestand der Zweck dieser Art der Verschlüsselung nicht darin, eine Nachricht von einem Sender an einen Empfänger so zu übermitteln, dass dieser sie mit seinem Schlüssel wieder entschlüsseln und lesen konnte, ohne dass dies einem Dritten möglich wäre. Ein Schlüsselaustausch fand nicht statt. Zweck dieser Verschlüsselung war es vielmehr, zunächst nur den Geheimtext zu veröffentlichen und erst Jahre später den dazugehörigen Klartext publik zu machen. Dann konnte jedermann leicht den Klartext noch einmal anagrammieren und feststellen, dass er den identischen Geheimtext erhielt. Der Autor des ursprünglich veröffentlichten Anagramms war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Geheimtextes im Besitz der im Klartext enthaltenen Information. Diese Vorgehensweise diente zur Sicherung der Priorität von wissenschaftlichen Erkenntnissen und dies zweifelsfrei beweisen zu können, ohne die wissenschaftliche Aussage selbst frühzeitig offenbaren zu müssen und die eigene Priorität zu gefährden.
Eine Entzifferung, also das Knacken des Geheimtextes, ohne über den Schlüssel zu verfügen, war praktisch nicht möglich. Selbst mit modernen kryptanalytischen Methoden ist das aufgrund der Vielzahl möglicher Anagramme außer in Ausnahmefällen nicht zu schaffen. Das bestätigt auch Friedrich L. Bauer in seinem Standardwerk der Kryptologie: „In der Tat zeigt die Erfahrung, bestätigt durch Shannons Theorie, daß es für ein Anagramm keine Unizitätslänge gibt.“ [5] Das bedeutet, dass ein durch Anagrammieren erzeugter Buchstabensack, sei es die schlichte alphabetische Sortierung oder eine kunstvolle Umstellung, nicht mehr eindeutig in den ursprünglich zugrunde liegenden Text zurückverwandelt werden kann. Diese Unfähigkeit hat nichts mit mangelnder Geschicklichkeit, Zeit oder Rechenkraft zu tun, sondern ist prinzipieller Natur. Zwar kann es gelingen, aus dem Anagramm durch Umstellen der Buchstaben einen anderen Text zu erzeugen. Man kann aber nicht sicher sein, dass dies die einzige und damit die richtige Lösung ist. Beispiel: Das Anagramm AELX kann durch Anagrammieren des Namens AXEL gebildet worden sein, aber es kann auch der Name ALEX zugrunde liegen.